Das Paradigma der Relationalität
Bericht zur Tagung der Deutschen Gesellschaft für Netzwerkforschung

Montag, 3. - Dienstag, 4. Dezember 2018

Schader-Forum, Goethestraße 2, 64285 Darmstadt

>>TAGUNGSPROGRAMM<<

Beziehungen sind die Grundlage der Netzwerkforschung. Diese interessiert sich für Strukturen von Beziehungen, deren Entstehung, deren Wirkung und den Möglichkeiten solche Beziehungsmuster zu beeinflussen. Hält man konsequent an diesen Inhalten fest, kommt man zu dem Ergebnis, dass eine grundsätzliche Veränderung der Methoden und der Theorien in der Sozialwissenschaft notwendig sind. Es entsteht ein eigenes Paradigma, das der Relationalität.

Aus der Perspektive der Netzwerkforschung verschieben sich die Grundlagen der Sozialwissenschaft, hin zu einer nur noch auf die Relationen achtenden Wissenschaft, die auf bereits fixe Entitäten keine Rücksicht mehr nehmen kann. Alles, was an Entitäten vorhanden ist, entstand und entwickelt sich weiter mit und durch Beziehungen.

Inwieweit diese Überlegungen tatsächlich zutreffen, wurde auf der Tagung kontrovers diskutiert. Der Konstanzer Politikwissenschaftler Volker Schneider widersprach einer zu pointierten Ansicht. Wir alle hätten es mit Entitäten zu tun, von denen viele nicht mehr beeinflussbar seien. Wenn wir etwa an zahlreiche gesellschaftliche Institutionen denken, mit denen wir umgehen müssen, die als solche aber nicht verhandelbar seien.

Dieser Ansicht stellte Roger Häußling Ideen zur Digitalisierung, die eben auch ein relationales Phänomen seien, entgegen. Er argumentierte aus Sicht eines strikten methodologischen Relationalismus.

Im Kreise der Netzwerkforschung weniger umstritten mag sein, dass Entitäten, die uns im Moment nicht veränderbar erscheinen, ebenfalls relational entstanden sind. Manche dieser Gebilde verändern sich, aber nur auf lange Sicht. Sie sind nicht direkt Aushandlungen zugänglich. Der methodologische Relationalismus müsste also beides berücksichtigen: Erstens die Tatsache, dass die soziale + technische Welt um uns herum relational konstruiert wurde und zweitens dass die Ungleichzeitigkeit der verschieden institutionalisierten Konstrukte, nicht alles gleichermaßen verhandelbar macht. Gerade die Gewissheiten, welche Institutionen bieten, ermöglichen andere relationale Konstruktionen erst.

Diese Debatte wurde später durch Malte Ebner von Eschenbach zusammen mit Carolin Alexander wieder aufgenommen und von Ortfried Schäffter weitergeführt. Die beiden Vorträge bezogen sich auf den Beziehungsphilosophen Julius Jakob Schaaf.

Weitere Vorträge, etwa der von Claudius Härpfer und der von Katrin Hirte stellen mehr grundsätzliche Fragen, etwa, inwieweit man bei der Netzwerkforschung überhaupt von einem eigenen Paradigma sprechen könne. Julia Thibault präsentiert Nachdenkliches über die Phänomenologie des Relationalismus und Athanasios Karafilidis widmet sich der Relationsmustererkennung.

Die Keynote der Tagung wurde von Jana Diesner (University von Illinois in Urbana-Champaign) gehalten. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, wie Daten aufbereitet werden müssen, damit sie zu belastbaren Ergebnissen führen. Das Beispiel, an dem sie das ausführt, ist die Zuordnung von Namen zu Personen. Das ist für die Netzwerkforschung von großer Bedeutung, denn sonst werden die in die Analysen eingeführten Knoten auf falsche Weise konstruiert. Das kann geschehen, wenn verschiedene Personen mit gleichen Namen zu einem Knoten zusammengefasst werden oder wenn eine Person über mehrere „Identitäten“ verfügt.

Sprachliche Konstrukte spielen eine Rolle hinsichtlich der Uneindeutigkeit der Zuordnungen der Entitäten. Wie komplex sprachliche Netzwerke sein können, damit beschäftigt sich Alexander Mehler. In seinem Vortrag geht er auf die komplexe über mehrere Ebenen zu konstruierenden Saussureschen Netzwerke ein. Sven Banisch stellt aus der Perspektive verschiedener Disziplinen dar, wie vielfältig Netzwerke konstruiert werden können.

Aspekte von Organisationen und deren Zusammenarbeit werden in einer weiteren Session zusammengetragen. In einem Vortrag von Diana Fischer, Kathrin Eismann und Kai Fischbach werden relationale Überlegungen zur Entwicklung einer App dargestellt, die versucht, die Koordination von Hilfsorganisation im Krisenfall zu verbessern. Mit Problemen des Quartiersmanagements durch unterschiedliche Eingriffs- bzw. Verwaltungsebenen beschäftigt sich das Referat von Michael Noack. Mit der Struktur eines Tauschrings setzt sich der Beitrag von Jakob Hoffmann und Johannes Glückler auseinander.  Die Untersuchung der Tauschgemeinschaft fokussiert auf die Dynamik der Beziehungen. Trotz der Fluktuation verfügt der Ring über ein Zentrum-Peripherie Beziehungsmuster mit stabilem Zentrum und auch einer stabilen Peripherie.

Die Bedeutung des Raumes in dem sich verschiedenste Beziehungen entfalten, ist das Thema einer weiteren Session. Hier überlegt Per Kropp, der Pendlerforschung betreibt, auf welche Weise diese am angemessensten analysiert werden können. Die meisten gängigen Maße sind hierfür nicht wirklich gut geeignet. Mit dem öffentlichen Nahverkehr beschäftigt sich der Beitrag von Klaus Liepelt, Sebastian Leuoth und Haiko Lietz. Hier wird der Versuch gemacht, Analysen für Nahverkehrsgesellschaften auf eine relationale Weise durchzuführen. Als Knoten werden hierbei Ruhepunkte definiert, Kanten sind die Wege zwischen den Ruhepunkten. Die als Flowbile bezeichnete Forschungsarbeit sieht sich als Alternative für die kaum mehr praktikablen Befragungen via Telefon. Hier ein Zitat aus dem Vortrag: „Nichts geht mehr auf dem Königsweg“. Jan Delhey, Monika Verbalyte, Auke Aplowski und Emanuel Deutschmann zeigen auf, wie sehr in Europa grenzüberschreitende Interaktionen angewachsen sind. Forschungsfragen hierbei sind, inwieweit die Intensität der Vergesellschaftung in Europa sich verändert hat, und wie die europäische Vergesellschaftung strukturiert ist. Phillip Roth stellt in einem weiteren Vortrag fest, dass sich die Partnersuche von Unternehmensgründern ganz unterschiedlich darstellt, je nachdem ob es sich um ein Start-up oder ein Spin-off handelt.

Mit digitalen Lernwelten insbesondere in der Hochschulbildung  befasst sich der Vortrag von Cathleen Stützer. Wie Netzwerkforschung in der Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gelehrt werden kann, ist das Thema von Elke Hemminger. Mit organisationalem Lernen beschäftigt sich Joshua Dohmen.

Kultur und die Herausbildung von kulturellen Bewegungen ist das Thema der folgenden Session. Hier untersucht Meike Beyer die Beziehungsstrukturen der Futurismusbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hierbei greift sie auf die Bestände des Archivs der Avantgarden der staatlichen Kunstsammlung in Dresden zurück. Katharina Burgdorf wertet für die Analyse der Bewegung des „New Hollywood“ die Internet Movie Database aus. Mit Hilfe dieser Datenbank kann sie ein Zitationsnetzwerk zwischen unterschiedlichen Filmen und ihren Regisseuren konstruieren. Christian Stegbauer trägt eine gemeinsam mit Studierenden erarbeitete Untersuchung zur Relationalität von Bekleidung vor. Elena Kaip interessiert sich für die Vernetzung zwischen Menschen und Dingen in städtischen Räumen.

Die nächste Sitzung beschäftigt sich mit der Frage inwiefern Gesundheit mit Relationen zusammenhängt. Niko Kern erklärt, dass sich chronische Schmerzen aus drei zusammen wirkenden Faktoren zusammensetzen: dem biologischen Körper und psychischen und sozialen Faktoren. Im Vortrag wird aufgezeigt, dass Eingebundenheit in die Therapiegruppe bei der Bewältigung der Schmerzen hilft. Holger von der Lippe (zusammen mit Martin Herfurth und Nina Löschinger) betrachtet Netzwerkstrukturen und deren Effekte auf das Gesundheitsverhalten junger Erwachsener. Schließlich betrachtet Lea Ellwardt zusammen mit Carlos F. Mendes de Leon die positive Wirkung der sozialen Integration in Beziehungen. Bei einer guten sozialen Integration werden die Menschen älter. Die Eingebundenheit in Beziehungen wirkt deutlich stärker als der Verzicht auf gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen (etwa Alkoholgenuss oder Übergewicht).

Die letzte Sitzung der Tagung wurde etwas kryptisch mit „Raum und Prozess“ überschrieben. Herbert Schubert setzt sich mit Verfahren der Netzwerkentwicklung in Kommunen auseinander. Ein weiterer Beitrag zur Verkehrsforschung kommt von Klaus Liepelt, Thomas Köhler, Katy Börner, Markus Schubert und Röbbe Wünschiers. Er zeigt auf, welche neuen Beobachtungen durch die Untersuchung des Nahverkehrs durch Wegetracking mittels einer App möglich geworden sind. Einblicke in Verkehrsrelationen bis in kleine Wohneinheiten können dadurch gewährt werden. In einem weiteren Referat untersucht Robert Panitz gemeinsam mit Johannes Glückler, inwieweit sich Unternehmensverlagerungen im Zuge des Brexit aus Netzwerkbeziehungen erklären lassen. Gerhard Fuchs überlegt, inwieweit eine relationale Soziologie dazu beitragen kann eine neue Wirtschaftssoziologie zu begründen.

Die Tagung bestand aus 35 sehr kurzen zehnminütigen Vorträgen. Der Tagungsablauf wurde so konstruiert, dass alle Teilnehmenden die Chance hatten auch alle Beiträge zu hören. Die Tagung wurde in Zusammenarbeit mit der Schader-Stiftung in deren Räumen durchgeführt. Die Deutsche Gesellschaft für Netzwerkforschung ist explizit interdisziplinär aufgestellt. In der Praxis konkurrieren disziplinäre „Zwänge“ mit denen des Zusammenkommens unterschiedlicher Disziplinen. Ein Aspekt einer solchen Tagungsregie mit kurzen Vorträgen in nur einem Panel sollte sein, dass ein Austausch zwischen unterschiedlichen Disziplinen möglich wird.

Die Kürze der Beiträge ist relativ ungewöhnlich und ist gelegentlich auch der Kritik ausgesetzt, denn eine wirklich tiefe Auseinandersetzung mit einem Thema ist in diesem Format kaum möglich. Andererseits reichen die wenigen Minuten, um einen Einblick in Themen und forscherische Zugänge zu bieten. Das ist genug um voneinander zu lernen und stellt auch schon einen Anlass dar, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Viele Teilnehmende äußerten sich positiv zu diesem Format. Zur Tagung kamen insgesamt etwa 75 Teilnehmende.

Am Spätnachmittag des ersten Tagungstages fand außerdem die Jahresmitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Netzwerkforschung statt. Weiterhin wurde den Arbeitskreisen die Möglichkeit für Strategiedebatten am frühen Morgen des zweiten Tagungstages eingeräumt.

Die Tagung zeigte auf, wie sehr sich die Netzwerkforschung in den letzten Jahren entwickelt hat. Sie greift Platz in immer mehr wissenschaftlichen Disziplinen. In manchen, so ist absehbar wird sie sogar zu einem Hauptstrang der Forschung werden. Die Netzwerkforschung ist sehr breit aufgestellt. Zu sehen, was die Forschungsthemen sind und wie diese bearbeitet werden, gerade auch in anderen Disziplinen, bringt einen Gewinn für die Übertragung von Ideen. Insofern sind viele Teilnehmende nicht nur mit neuen Bekannten, also einer Erweiterung  ihres eigenen Netzwerks nach Hause gefahren; sie haben auch zahlreiche Anregungen mitgenommen, die der eigenen Arbeit zu Gute kommen können.

Christian Stegbauer